Inklusion am Arbeitsmarkt – ein Expertentalk

Es leben 8.000.000 Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland. Stand Ende 2023 beschäftigt mehr als ein Viertel der dazu verpflichteten Betriebe in Deutschland keinen davon. Deshalb ist die Zahl der Arbeitslosen mit Behinderung hoch. Das Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch und des Handelsblatt Research Institutes zeigt jedoch ein gespaltenes Bild. Die Anzahl der Arbeitslosen mit Behinderung ist 2023 um rund 5 Prozent gesunken. Die Entwicklung zeigt aber, dass die Anzahl seit Ende 2022 gestiegen ist.

Hier geht es zum Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch

Unternehmen müssen Ausgleichszahlungen leisten, wenn sie keine Menschen mit Behinderung beschäftigen. Die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber*innen, kurz EAA, sind ein zusätzliches Beratungsangebot zur Erhöhung der Verbesserung der Einstellungsbereitschaft. Es wird Unterstützung in Fragen zu Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung geboten sowie Beratung und Begleitung angeboten.

Stephan Wenn ist einer dieser Ansprechpartner. Wir sprachen mit ihm über seine Erfahrungen.

Stephan Wenn
Stephan Wenn, Foto privat

Über Stephan Wenn

Stephan Wenn ist Fachberater für Inklusion. In dieser Rolle berät er Arbeitgeber zu allen Fragen, bei denen es um die Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung am ersten Arbeitsmarkt geht. Er hat als EAA keine vermittelnde Tätigkeit, sondern eine beratende und hilft Arbeitgebenden dabei, die richtigen Ansprechpartner zu finden und begleitet den Prozess auf Wunsch. In seiner Freizeit ist er unter anderem auch Fußballtrainer für Menschen mit Handicap.

Nach einer sehr langen Phase seines beruflichen Lebens begann er 2016 bei der Bundesagentur für Arbeit, wo er wertvolle Erfahrungen bei der Vermittlung von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt  sammeln konnte. Heute steht er als eine einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgeber im Rheinland Arbeitgebenden  zur Verfügung und klärt über die vielfältigen Möglichkeiten, Organisationen und Unterstützungen auf, mit deren Hilfe es gelingen kann, Menschen mit Handicap erfolgreich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.

Mit welchen Vorurteilen haben Menschen mit Behinderung im Arbeitsumfeld zu leben? 

Die größten Vorurteile sind, dass sie minderleisten, dass sie nicht die Leistung wie ein “normaler” Arbeitnehmer erbringen könnten. Dazu zählt auch das Thema der Krankenzeiten. Ich bekomme auch oft die Annahme zu hören, dass sie schwierig zu integrieren seien und damit den Frieden im Unternehmen gefährden.

Was möchtest du ändern und bewirken? 

Ich will niemanden bekehren. Man muss selbst überzeugt sein, jemanden mit einer Behinderung einzustellen. Dabei möchte ich beraten, und zwar aus den Erfahrungen heraus, die ich gemacht oder erzählt bekommen habe. Meine Motivation dahinter ist, Menschen zu helfen, eine Struktur und Wertigkeit in unserer Gesellschaft zu erhalten.

Ich mache niemanden zu einem besseren Menschen, aber ich kann jemanden sensibilisieren, anders mit dem Thema umzugehen, als er es heute tut. Nichts, was heute probiert wurde und gescheitert ist, muss morgen wieder schief gehen. Auch Mitarbeitende ohne Behinderung haben schon enttäuscht – und eine zweite Chance bekommen. Das will ich gerne vermitteln und eine andere Sensibilität setzen.

Wie viele Menschen mit Behinderung sind arbeitslos, aber arbeitswillig? 

Aus der Gesamtzahl der Arbeitslosen in Deutschland haben 10 % einen Behindertenausweis. Die Zahl lässt sich einfach erklären, weil in Deutschland jeder Zehnte eine Behinderung bzw. eine Beeinträchtigung hat.

Ich kenne jedoch keine Zahlen, wie viele davon arbeitswillig wären. Im Deutschen System werden viele Menschen mit Behinderung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen beschäftigt, nämlich ca. 300.000 Mitarbeiter. Auch da gibt es sicherlich eine Menge, die arbeitsfähig im 1. Arbeitsmarkt wären, aber aus den Werkstätten nicht herauskommen.

Viele der Menschen mit Behinderung sind nicht von Geburt an behindert. Jemand, der in einem schweren Handwerk tätig war, der chronische Rückenschmerzen bekommt, nicht mehr z.B. im Straßenbau arbeiten kann, ist eventuell noch arbeitsfähig in einem anderen Bereich, stellt sich aber die Frage: Will ich mit 60 da noch arbeiten – oder das Leben genießen? Ich glaube schon, dass es ein hoher Prozentsatz ist, der gerne arbeiten würde. Es würde uns als Gesellschaft auch, Thema Fachkräftemangel, gut tun.

Es wird jetzt so viel von KI gesprochen. Sie kann unglaublich viel leisten – aber es wird immer eine Menge an Aufgaben übrig bleiben, die Menschen mit Behinderung übernehmen können. Wer kehrt die Werkhalle? Wer belädt den Transporter? Einfache, banale Fragen, die sicherlich je nach Arbeitsplatz potenzierbar sind. Damit bekommt jemand eine Wertigkeit, eine Bezahlung und eine Aufgabe.

 

Was macht diese Wertigkeit mit den Menschen?

Viel! Man hat einen ganz anderen Stand in der Gesellschaft. Der Selbstwert ist ein großer Punkt von Menschen mit Behinderung. „Verhalte dich ruhig!“ „Fall nicht auf!“ Menschen mit Behinderung sind immer noch nicht so in der Gesellschaft angekommen, dass sie nicht komisch angeguckt werden.

Meine Tochter Johanna ist fünf Jahre alt und geht mit uns zum Fußball in unserem Verein, in dem Spieler mit Behinderung spielen. Für sie ist das vollkommen normal. Auch andere Länder sind da viel weiter als wir in Deutschland. In Holland gehören Menschen mit Behinderung zum vollkommen normalen Straßenbild. Es geht darum, im Rahmen seiner Möglichkeiten das zu tun, was jedermann kann. Einfach so, dass es für alle passt.

Wie kann ich das als Arbeitgeber aktiv gestalten?

Als Arbeitgeber muss ich mir darüber Gedanken machen, was geschafft werden soll und wie das ermöglicht werden kann. Im Zweifelsfall weiß ich, dass der Mitarbeiter nicht mit dem Auto zur Baustelle fahren kann, um dort mitzuarbeiten. Da muss es Mittel und Wege geben, um das zu ermöglichen. Mit denen muss ich mich auseinandersetzen.

Die Frage, die sich mir stellt, ist, wieso wir die behinderten Menschen in einen so beengten Raum pressen, wie z.B. in die Werkstätten? Aber schlussendlich geht es natürlich auf dem gesamten Markt rund um Menschen mit Behinderungen auch um Geld. Viel Geld. Es geht da wahrscheinlich um Milliarden Euro, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Verwaltung, Fahrdienste usw.

Dass der Rahmen für alle Beteiligten geöffnet werden kann – daran arbeite ich mit meinen bescheidenen Mitteln mit.

Ist das Umdenken neu?

Ja und nein, aber Verschiedenes zeigt mir einfach, dass wir noch nicht in der Normalität angekommen sind. Jedes Jahr im Dezember gibt es, um ein Beispiel zu nennen, die Woche der Menschen mit Behinderung. Und regelmäßig gibt es dann regional von der Agentur für Arbeit ein gutes Beispiel von Inklusion für die Presse. Das ist zu wenig und viel zu kurz gedacht. Da braucht es einfach mehr.

Wie wichtig ist die Zusammenarbeit und Vorbereitung im Team und wie beeinflusst dies den Erfolg?

Hier gibt es kein Schwarz oder Weiß. Jeder Mitarbeiter muss sich jeden Tag bemühen, damit das Zusammenarbeiten und Zusammensein erfolgreich wird. Immer wenn zwei Menschen, 10 Menschen, 100 Menschen zusammenkommen, muss jeder Einzelne schauen, dass es funktioniert. Sonst stehen die Räder still. Dafür müssen die Rahmenparameter eingestellt werden. Menschen mit einem Handicap können sich sehr gut einschätzen. Vielleicht sogar besser als Menschen ohne. Deshalb ist die Kommunikation auch so wichtig.

Aus meiner Erfahrung ist Vorbereitung alles. Hier steht und fällt das Projekt. Bei einem Unternehmer hatten wir sehr intensive Gespräche im Vorhinein. Er meinte schließlich, er wolle es probieren – und war positiv überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass es so gut funktionieren würde.

Woran scheitert Inklusion in der Arbeitswelt am häufigsten?

Wenn der Druck zu groß wird und/oder Fehler passieren. Den Druck haben die Menschen mit Behinderung sowieso, denn sie stehen ständig auf dem Tablett. Von ihnen erwartet man eigentlich den Ausfall. Wenn es doch funktioniert, dann ist man erfreut. Sie wissen, dass sie im Fokus stehen. Dabei kann man schon mal verkrampfen.

Ganz wichtig zu wissen ist auch, dass Menschen mit Behinderung leise sind. Die, die am lautesten sind, haben aber schon mal Recht in unserer Gesellschaft. Deshalb müssen hier die Arbeitgeber grundsätzlich ein  Auge darauf haben.

Wenn mir allerdings klar ist, was jemand leisten kann und wo und wie ich ihn einsetzen kann, dann funktioniert Inklusion in der Regel auch.

Was bedeutet es für dich, in einer diversen Gesellschaft zu leben?

Dass jeder alles erreichen kann, was er möchte. Und dass man die Unterstützung findet, die es dafür braucht.

Experten-Tipps von Stephan Wenn: Wie kann Inklusion im Arbeitsumfeld gelingen?

  • Inklusion ist keine einmalige Sache, sondern eine tägliche Aufgabe. Man muss sich immer darüber bewusst sein, als Arbeitgeber inklusiv zu sein.
  • Herausforderungen nicht schieben, sondern lösen: Arbeitsplatzausstattung, Förderungen, Dinge, die im Arbeitsablauf nicht stimmig sind, positiv ansprechen und lösen.
  • Kommunikation ist immer alles, sie muss klar und verständlich sein. Und zwar mit allen, die am Prozess beteiligt sind.

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