Organisationsentwicklung und Führung aus Sicht der Gehirnforschung

Aus dem Blickwinkel der Gehirnforschung wird das Thema „Führung“ anders betrachtet, als es gelehrt wird. Zumindest früher. Die Einsichten aus den neuesten Erkenntnissen helfen uns im Heute weiter.

Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis sorgt bei vielen Uni-Absolventinnen und Absolventen und nun angehenden Führungskräften für Irritation. So auch für Melanie Sonneborn. Die Betriebswirtin dachte nach dem Studium, sie wäre gut vorbereitet auf ihre erste Führungsposition.

„In Wahrheit hatte ich einen kleinen Schock. Ich wollte meine Sache gut machen – las unheimlich viel Literatur zum Thema – aber erst bei den Gehirnforschungsbüchern hatte ich Aha-Erlebnisse. Ich dachte nur: Wieso wissen wir Führungskräfte, oder eigentlich: wir Menschen, nicht über das Thema Gehirnforschung Bescheid?“ Melanie Sonneborn

Praxis gegen Gehirn

Das Thema Gehirnforschung hat Melanie weiter vertieft – bis sie in die Rolle der Selbstständigkeit mit ihrer Firma mehrwerte GmbH gekommen ist. Nun verteilt sie ihr Wissen über Organisationsentwicklungen und Einzelcoachings. Schwerpunkt dabei ist die evolutionsbiologische Entwicklung unseres Gehirns. Denn es ist nicht erst in den letzten 50 Jahren entstanden.

„Alles, was ich weitergeben kann, ist praxiserprobt. Trotzdem kann ich für nichts eine Garantie abgeben. Denn wir haben es mit Menschen zu tun – und den Knopf für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt es nicht. Ich gebe Einblicke, aber am Ende bleibts ein Mensch.“ Melanie Sonneborn

Unser zweiteiliges Gehirn

Mit dem Neokortex und dem limbischen System fällen wir unsere Entscheidungen. Dabei ist der Neokortex für die Ratio zuständig, das limbische System für alles Unbewusste, das Gefühl. 93–97 % unserer Entscheidungen treffen wir mit dem limbischen System, mit unserem Unbewussten. Der Anteil des Unbewussten ist dementsprechend extrem groß. Dem sollten wir uns bewusst sein.

Aus Melanies Praxis:

Bei einem Experiment sollten sich Ingenieure in einem Raum aufstellen. Sie alle waren sich sicher, dass sie ihre Entscheidungen mit sehr hohem Prozentsatz aus der Ratio, dem Neokortex heraus, fällen. Aber auf die Frage, wieso sich einer der Ingenieure im Raum genau dort hingestellt hatte, antwortete dieser: „Das weiß ich nicht, das war Bauchgefühl.“

Wieso agieren wir so, wie wir es tun?

„Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, was wir gerade tun.“ Melanie Sonneborn

Foto von Rabah Al Shammary auf Unsplash

Wir müssen uns bewusst machen, dass wir die Nachfahren derer sind, die in der Evolution erfolgreich waren. Auch vor 300.000 Jahren gab es schon Optimisten und Pessimisten. Evolutionsbiologisch hat damals ein Rascheln im Gebüsch auf den Pessimisten die Auswirkung, dass er „Alarm“ schreit und sich in Sicherheit bringt. Der Optimist denkt, dass das Geräusch ein Kaninchen sei. Wenn es dann tatsächlich ein Kaninchen war, wird der Pessimist ausgelacht – es hat also „keine“ Folgen. War es aber wirklich ein Säbelzahntiger, werden diejenigen, die nicht geflüchtet sind, die Optimisten, ihre Gene nicht mehr weitergeben können.

„Wir sind also aussortiert. Wir alle sind die Nachfahren von enorm alarmbereiten Pessimisten.“ Melanie Sonneborn

Unser Gehirn heute funktioniert ähnlich wie damals vor 300.000 Jahren. Es ist rein auf das Überleben ausgelegt – unser Gehirn ist „für den Säbelzahntiger“ gemacht.

Die neuesten Erkenntnisse aus der Gehirnforschung in der Führung

Organisationen wurden aufgebaut, als das Fließband gerade die neueste technologische Innovation war. Damit wurde auch das Silodenken geschaffen. Gleichzeitig wurde und wird Führung mit „Command and Control“ ausgeführt. So kriegt man Menschen dazu, dass sie tun, was es braucht. Das Musterszenario muss aufrecht gehalten werden: Belohnung – Bedrohung. Es muss, wie eine Maschine, ständig wiederholt werden. Aber: Alles, was passiert, wird sofort von unserem Gehirn bewertet: Kaninchen oder Säbelzahntiger? Dableiben oder Flucht?

Um nun das volle Potenzial der Mitarbeiter ausschöpfen zu können, sollten Organisationen laut Melanie limbischer gestaltet werden. Die intrinsische Motivation gesteigert, die extrinsische Motivation zurückgestellt werden.

Foto von Emma Dau auf Unsplash

Extrinsische und intrinsische Motivation

Extrinsische Motivation motiviert kurzfristig, schadet aber langfristig, weil das System nicht nachhaltig ist. Wer es als Führungskraft jedoch schafft, intrinsisch zu belohnen, erzeugt im besten Falle

  • Kreativität,
  • Verantwortung und
  • Emergenz.

„Emergenz ist, wenn Menschen gut zusammenwirken. Dann entsteht etwas, das mehr ist als die Summe der Teile. Und darauf sind wir angewiesen.“ Melanie Sonneborn

Wenn uns etwas bedroht, überlegen wir sofort: Kann ich der Bedrohung mit Kampf siegreich entgegen gehen? Erscheint das nicht möglich, entscheide ich mich für die Flucht. Wenn dafür nicht mehr genügend Platz ist, erstarre ich. In den Kampf gehen die Menschen heute mit der Diskussion. Die Flucht kann sich in einer Kündigung oder auch in der inneren Kündigung widerspiegeln.

Intrinsische Belohnungsebenen: Das Ambossmodell

Das Ambossmodell ist der Merksatz auf intrinsischer Ebene, das unsere Grundbedürfnisse widerspiegelt. Melanie hat damit das Skarf Modell von David Rocks weiterentwickelt.

Grundbedürfnis 1: Autonomie oder Wachstum

Von Anfang an steckt dieses Bedürfnis in uns. Wir wollen frei gestalten. Bei Kleinkindern ist das sehr gut zu beobachten. Es ist aber auch etwas, dass häufig enorm eingeschränkt wird. In zu starren „Kästchen“ übernehmen wir aber auch keine Verantwortung mehr, was sich negativ auf unsere intrinsische Motivation auswirkt. Geregelt wird dieses Grundbedürfnis vom Neurotransmitter Dopamin.

Grundbedürfnis 2: Macht oder Gestaltungswille/Dominanz/Status

Hierbei handelt es sich um das Bedürfnis, in einer Herde eine Bedeutung zu haben. Auch mal den Ton angeben zu können. Der Entzug von Status wiederum ruiniert den Menschen. Er muss die Statusverletzung erstmal verkraften. Dafür zuständig ist das Hormon Testosteron.

Grundbedürfnis 3: Bindung

Das Hormon Oxytocin fördert positive soziale Interaktionen, Bindung, Vertrauen und Empathie zu unseren Mitmenschen. Auf Basis von guter Bindung ist es uns möglich, uns zu mögen, obwohl wir auch mal unterschiedlicher Meinung sind.

„Führung hat auch den Job, professionelle Nähe zu stärken. Diese Form von Bindung brauchen wir in Unternehmen.“ Melanie Sonneborn

Grundbedürfnis 4: Orientierung/Sicherheit

Der Mensch ist per se immer eher in der Bedrohungsecke bei Veränderungen. Das lässt uns Wandel und Entwicklung eher kritisch sehen.

„Wir Deutschen haben ein enorm hohes Sicherheitsbedürfnis. Das belegen auch Studien. Zuständig dafür ist das Hormon Serotonin.“ Melanie Sonneborn

Neben den Bedürfnissen, die von Hormonen gesteuert werden, gibt es noch zwei weitere im Amboss-Modell:

Grundbedürfnis 5: Sinn

Im Leben ist die Sinngebung der wohl wichtigste Punkt, damit Menschen auch in schwierigen Situationen überleben können. Wir müssen manchmal auch Kröten schlucken. Wenn der Sinn klar ist, schafft man das auch. Und: Wir sind sogar bereit, unser Leben zu opfern, weil wir von Sinn erfüllt sind.

Grundbedürfnis 6: Solidarität/Fairness:

Ein ganz wichtiges Thema in der Führung ist Fairness und Solidarität. Wir Menschen haben einen Blick dafür, ob es generell fair zugeht. Spielt jedoch einer nicht mit, hat das Auswirkungen auf das ganze Team.

Experten-Tipp von Melanie Sonneborn: Womit fängt man an?
„Mit dem Zuhören. Das ist ein wahnsinnig wertvolles Instrument. Das bewegt die Amboss-Punkte schon alle mit.“

Über Melanie Sonneborn

Melanie Sonneborn, Geschäftsführerin der mehrwerte GmbH ist Expertin für gehirngerechte Unternehmenskultur, Führungskräftetrainerin und Keynote-Speaker. Als Senior Coach (Deutschen Bundesverband Coaching) unterstützt sie Führungskräfte und Experten dabei, die enormen Potentiale des Gehirns zu entfalten und ein zukunftsfähiges Mind- und Skillset zu entwickeln. Dabei nutzt sie die Erkenntnisse der Hirnforschung zur Neuroplastizität, um nachhaltige Veränderungen zu bewirken und Führungsstärke, emotionale Intelligenz, Empathie und Konfliktkompetenz auszubauen. Als Systemikerin begleitet sie Organisationen und Teams dabei, so zusammenzuarbeiten, dass Emergenz, Kreativität und intrinsische Motivation entstehen.

Kategorisiert in: ,